Corona

„Neues entsteht,
wenn man Bekanntes
neu kombiniert.“   

Corona: Lehren für die Nachhaltigkeits-Transformation

Dieser Text entsteht ein paar Tage nachdem die Firma BioNTech glaubwürdig einen 90%-wirksamen Impfstoff gegen Covid19 angekündigt hat. Auch wenn die meisten Gesellschaften trotzdem mit steigenden Infektionszahlen zu kämpfen haben, ist mit dieser Ankündigung dennoch ein Unsicherheitsfaktor aus der Corona-Pandemie genommen worden: Es ist absehbar, dass in 2021 ein Mittel zur Infektionshemmung zum Erkrankungsschutz verfügbar sein wird und damit dürfte das Infektionsgeschehen abflachen.

Daher ist dies ein guter Zeitpunkt um über Lehren der Corona-Pandemie für die Nachhaltigkeitstransformation nachzudenken. Diese Lehre beginnt bereits damit, dass einige Leser*innen womöglich gar nicht mehr bis zu diesem Absatz gekommen sind, weil der erste Absatz mich als jemanden ausweist, der Vertrauen in die Wissenschaft und die Nützlichkeit von Impfstoffen hat. Keinesfalls ist mein Vertrauen grenzenlos, aber in der Polarisierung über Kampfbegriffe wie Impfpflicht, Maske, Pandemie, Covidioten, usw. ist bereits eine Positionierung zu gewissen Aspekten des Gesundheitswesens im Jahr 2020 ein Aufreger. Aus den Erfahrungen der letzten Monate ist aber einiges zu lernen für die Nachhaltigkeitstransformation, insbesondere aus sozialer Perspektive.

Unter Nachhaltigkeitstransformation soll hier die Veränderung der bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen und Verhaltensweisen verstanden werden, die zum Ziel hat, das Leben der Menschheit in eine dauerhaft tragfähige Balance mit den Dynamiken auf dem Planeten Erde zu bringen. Diese Balance soll dafür sorgen, dass die ökologischen Grenzen des Planeten dauerhaft eingehalten werden und so menschliches und anderes Leben dauerhaft möglich ist. „Nachhaltig“ meint hier also die Dauerhaftigkeit von Lebensbedingungen, die dem Menschen zuträglich sind. Transformation meint die Veränderung vom nicht-nachhaltigen Zustand heute zu einem anderen, nachhaltigeren Zustand in der Zukunft.

Diese Beschreibung geht davon aus, dass die Transformation etwas Gewolltes und bewusst Gemachtes, Selbstgestaltetes ist. Diese Sichtweise ist jedoch nicht garantiert. Da wir Menschen die Dynamiken auf unserem Planeten seit dem Beginn der Industrialisierung stark verändern, ist auch eine unbeabsichtigte Transformation in Gang: Die Veränderung der Lebensbedingungen durch unsere bestehende Wirtschafts- und Lebensweise. Schlagworte dafür sind: Klimawandel, Artensterben, Übersauerung der Meere, usw. usf.

Wir stehen also vor zwei Transformations-Perspektiven: Jene Transformation, die bereits durch unsere Vorfahren und uns eingeleitet ist und eine Veränderung der Biosphäre erwarten läßt, sowie jene Transformation, die wir gezielt gestalten hin zu mehr Nachhaltigkeit. Die erste Transformation ist eher eine passive Sicht, ein „Laufenlassen des Bestehenden“, die zweite beinhaltet eine aktive Komponente, ein „Verändern des Bestehenden“. Jene, die sich ernsthaft mit der Nachhaltigkeitsfrage befassen wissen, dass ein „Weiter so“ katastrophale Entwicklungen nach sich zieht, weshalb man die Transformationsfrage auch mit diesem schönen Entscheidungs-Satz zusammenfassen kann:

transformation by design or transformation by desaster.

Dieser Merksatz besagt: Ein Wandel kommt so oder so – entweder weil unsere Lebens- und Wirtschaftsweise unsere Lebensbedingungen so verändert, dass wir uns an diese anpassen müssen oder weil wir vorausschauend unsere Handlungsweisen und Strukturen so anpassen, dass sich unsere Umweltbedingungen möglichst nicht allzusehr von den uns bekannten Umweltbedingungen entfernen. Nach dieser Perspektive haben wir nicht die Wahl, ob wir Transformation wollen, sondern nur die Wahl, wie die Transformation aussieht und geschieht.

Was verbindet dies nun mit den Corona-Erfahrungen des Jahres 2020?

Auch die Corona-Pandemie ist eine Transformations-Erfahrung. Sie entstand, als Anfang 2020 das Covid19-Virus sich verbreitete, Menschen erkrankten und starben und die Entscheider in Krankenhäusern, Verwaltungen, Politik, Unternehmen und Haushalten begannen, Anpassungsentscheidungen zu treffen. Auch wir alle, die wir Abstand hielten, unsere Kontakte einschränkten und Masken trugen haben unser Verhalten verändert. Die Pandemie hat also ebenfalls zwei Transformations-Wirkungen mit sich gebracht: Jene Wirkung, die das Virus und die Erkrankung mit sich brachte, also beispielsweise Gestorbene, die nicht mehr in ihren Familien leben (transformation by desaster), und jene Wirkung, die wir als Vorbeuge- und Vermeidungs-Maßnahmen ergriffen (transformation by design).

Nun waren die transformation-by-design-Maßnahmen nicht immer besonders zielgenau. Das lag unter anderem daran, dass Europa seit Jahrzehnten keine Pandemie-Erfahrungen gemacht hat und das neuartige Virus und seine Eigenschaften unbekannt waren. Man wußte also nicht genau, was angemessene Maßnahmen sind und erst im Laufe der Monate, während die beiden Transformations-Dynamiken miteinander rangen, wurden die Erkenntnisse zum Virus und zu den Wirkungen von Gegenmaßnahmen klarer. Gleichzeitig entstanden aber soziale Dynamiken, die nicht beabsichtigt waren: Von der Krankheit Betroffene (Sterbende, Kranke und ihre Angehörigen) waren genauso Leidende, wie von den Vorbeuge-Maßnahmen Betroffene – insbesondere solche Menschen, die in ihren Berufs- oder Alltagsleben auf engen Kontakt mit anderen Menschen angewiesen sind. Das jeweilige Leiden war unterschiedlich, und die direkte Ursache war es auch: Die einen litten unter der Krankheit, die anderen unter den Einschränkungen. Gemeinsam war beiden Leiden die sich exponentiell beschleunigende Verbreitung eines Virus.

Der soziale Streit, der sich sogar in Demonstrationen aber vielfacher Wut, Enttäuschung und Anschuldigen entlud, folgt im Grunde der Frage: Welche Vermeidungs-Maßnahmen sind angemessen? Sogar die Antwort „Gar keine!“ ist für manche Menschen legitim. Dabei führen viele Menschen, die die politischen Entscheidungen für unangemessen halten, wirtschaftliche Gründe auf. Man müsse den betroffenen Branchen und Mitarbeiter*innen die Möglichkeit lassen, ihr Geschäft fortzuführen. Man müsse „zur Normalität zurückkehren“. Argumente dafür gibt es zahllose, aber um diese soll es hier nicht gehen.

Hier soll vielmehr auf die soziale Dynamik verwiesen werden, die die Pandemie mit sich brachte, und die auch in der Nachhaltigkeitstransformation zu erwarten ist. Denn es zeigte sich, dass die Beharrungskräfte manchmal extrem stark sind: Die Normalität des Alltagslebens vor der Pandemie wird vielfach als gesetzt und unabänderlich angesehen, ja sogar als eine Art Grundrecht. Das eigene Leben, der eigene Beruf, der eigene Alltag gilt als heiliger Gral, als unveränderliche Situation. Eingriffe in dieses „Normalitätsrecht“ werden als Angriff wahrgenommen, der nicht akzeptabel ist.

Für den Einzelnen sind solche Eingriffe in der Tat extrem belastend. Wohin solcherart Eingriffe führen zeigt die Pandemie-Erfahrung sehr deutlich. Die Ablehnung der „Pandemie-Maßnahmen“ kommt daher, dass Menschen auf etwas verzichten sollen, was sie als Teil ihres Lebens ansehen. Der Verzicht, der teilweise an die Existenz geht (sei es gesundheitlich oder ökonomisch), wird als nichtakzeptabel angesehen. Um die eigene Existenz zu behalten wird auch zu solchen Strohhalmen gegriffen, die abseits solcher außergewöhnlichen Zustände wohl eher nicht akzeptiert worden wären: Man klammert sich an alles, was den „Normalzustand“ rechtfertigt, um ihn nicht aufgeben zu müssen.

Die Nachhaltigkeitstransformation muss mit ähnlichen Widerständen rechnen. Denn auch sie fordert von Einzelnen einen Umbau der „normalen Handlungsmuster“. Wenn Kohlekraftwerke und Kohlebergwerke abgeschaltet werden, um die Kohle im Boden zu lassen, empfinden das die davon Betroffenen als Angriff auf ihre Existenz. Gleiches gilt für alle Branchen, die von Nicht-Nachhaltigkeit auf Nachhaltigkeit umgestellt werden sollen: Jede und jeder, der da arbeitet, soll auf jenes „Normal“ verzichten, dass sie oder er bis dahin gelebt hat. Dass dies Widerstände zu erwarten läßt, sollte nun mit der Pandemieerfahrung noch besser nachvollziehbar sein. Jedoch sind es nicht nur existenzielle Eingriffe, die Widerstand hervorrufen, sondern auch solche, die relativ unbedeutend sind. So wie in der Pandemie das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung für manche Menschen ein ungeheuerlicher Eingriff in ihre Alltags-Normalität ist, ist für andere das Aufstellen einer Windkraftanlage in Sicht- oder Hörweite ein ähnlich ungeheuerlicher Eingriff. Bei einzelnen kann selbst die Bitte der Mülltrennung als Übergriffigkeit wahrgenommen werden, wenn es nämlich ihre Alltagsnormalität bis dahin vorsah, Müll wegzuwerfen, ohne sich über dessen Weiterverarbeitung Gedanken zu machen. Die Argumente, die vorgebracht werden, um die eigene Normalitätserfahrung zu verteidigen, sind häufig Schutzbehauptungen, aber das macht sie nicht weniger real. Wer gegen Schutzbehauptungen argumentiert, kommt nicht zwangsläufig weiter, wissen wir aus der Pandemie. Also müssen ganz andere Mechanismen des Diskurses gefunden werden, die Normalitätsbeschützenden erlauben, eine neue Normalität zu erlernen.

Hier zeigt sich bereits die Herausforderung für Transformatoren: Bietet man den Menschen keine „Perspektive neuer Normalität“, so halten sie an der altbekannten Normalität fest. Die Beharrungskräfte des Normalen sind enorm. So lange keine Perspektive in Sicht ist, lassen nur Neugierige oder Experimentierfreudige die bekannte Normalität los. Womöglich erleben wir dies jetzt mit der Aussicht auf einen funktionierenden Impfstoff, weil dadurch auch ein soziales Ventil entsteht: die Aussicht auf die „Rückkehr zur Normalität“ im Laufe von 2021. Mit dieser Aussicht schrumpft womöglich die Notwendigkeit das Alte verbissen zu verteidigen, weil die Zukunft verspricht, dass das Alte wieder zur Alltagsnormalität wird.

Hier zeigt sich die nächste Herausforderung: Menschen mögen, was sie kennen. Daher wollen sie meist „zur Normalität zurück“, was nichts anderes bedeutet, als im Alten verhaftet zu bleiben. Temporäre Umwege werden vielleicht noch akzeptiert, aber am Ende möge möglichst wieder die alte Normalität stehen. Da dies in der Nachhaltigkeitstransformation aber oft keine Option ist, weil die alten Strukturen und Handlungsmuster unsere Umwelt drastisch verändern werden, müssen attraktive Bilder einer neuen Normalität gezeichnet werden. Wir brauchen also plastische Visionen, die möglichst auch erlebbar sind, denn auch das zeigt die Pandemie: Wer Kranke und Sterbende in seinem Umfeld erlebt hat, schaut anders auf die Vermeidungs-Maßnahmen, als solche Menschen, die das Leiden nur aus dem Fernsehen kennen. Wer also möchte, dass eine andere, zukünftige Normalität akzeptiert wird, muss diese in verständlichen Bildern zeichnen und kommunizieren; und sie dürfen nicht so abstrakt sein, dass sie nur von Akademikern verstanden und antizipiert werden können; sondern von einer großen bis übergroßen Mehrheit der Gesellschaft. Um es erlebbar zu machen brauchen wir quasi Erlebnisparks, in denen die nachhaltige Zukunft erlebt wird, und auch die veränderte Normalität als etwas Attraktives oder zumindest Akzeptables erlebt werden kann.

Die nächste Herausforderung ist die „ökonomische Mitnahme“: Die transformierende Gesellschaft kann alten, nichtnachhaltigen Branchen nicht nur sagen, sie seien obsolet. Die dort arbeitenden Menschen leiden sowohl unter existenziellen wie auch unter psychischem Druck. Beiden Leiden muss die transformierende Gesellschaft etwas entgegensetzen: Schrumpfende Branchen brauchen eine ökonomische, nachhaltige Perspektive, auf die sie zuarbeiten können. Und die betroffenen Menschen brauchen sowohl eine finanzielle Unterstützung, wie auch menschliche Begleitung in der Transformation. Hier müssen die Transformationsakteure wie FridaysForFuture lernen, dass der Widerstand der Bergleute oft kein Widerstand gegen die gesellschaftliche Transformation ist – es ist vermutlich vielmehr ein Widerstand gegen den eigenen Existenzverlust. Sozial und psychisch wirksame Begleitprogramme sind nötig, um den Umbau der Strukturen und Handlungsweisen möglichst so zu gestalten, dass der zu erwartende Transformations-Widerstand nicht zu einem Deadlock oder zu massiven Konflikten führt. Wie intensiv Widerstand gegen politische Maßnahmen ausfällt haben wir in der Pandemie erleben dürfen, und seine Nachwirkungen sind noch nicht vollständig absehbar.

Naturgemäß fallen jungen Menschen Anpassungen leichter als älteren Menschen. Transformation bedeutet Veränderung. Veränderung bedeutet Anpassungsmaßnahmen. Wer solche Prozesse unterfüttern will, sollte KnowHow als Transformationsbegleiter aufbauen. Junge Menschen, die die Welt verändern wollen, sollten in ihrer Ausbildung oder ihrem Studium also durchaus fragen, wie das erlangte Wissen zur Transformationsbegleitung eingesetzt werden kann. Und sie sollten es in selbstgeschaffenen Räumen erproben.

Auch eine ökonomische Perspektive hilft, die sozialen Pandemie-Wirkungen zu verstehen und Lehren für eine Nachhaltigkeits-Transformation abzuleiten. Menschen verstehen die (erzwungene) Abweichung von der Normalität als etwas Belastendes. Man könnte auch von psychischen und monetären Kosten sprechen, die entstehen. In der Nachhaltigkeits-Diskussion werden zunehmend die gesellschaftlichen Kosten des Nicht-Handelns thematisiert: wenn der Klimawandel unbegrenzt fortschreitet kostet dies Geld für spätere Anpassungsmaßnahmen aber auch Menschenleben. Das Problem sind die unterschiedlichen Zeithorizonte: das Nicht-Handeln verursacht unbestimmte (gesellschaftliche) Kosten in einer nicht genau terminierbaren Zukunft. Das vorausschauende Handeln, die Anpassung der heutigen Strukturen und Handlungsweisen, verursacht sehr reale (persönliche) Aufwände im Heute: Monetär genauso wie es psychische Kosten verursacht. Bislang gibt es keinen Mechanismus, der die künftigen kalkulatorischen Wirkungskosten mit den heutigen, realen Anpassungskosten verbindet. Nur wenige Menschen gehen in Workshops um die Erfahrung zu machen, sich mental in die Zukunft versetzen zu lassen und so die enormen Zukunftskosten zu erfahren, die ein Nicht-Handeln mit sich bringt. Nur wenige Ökonomen machen Vorschläge, wie die Zukunftskosten ins Heute transferiert werden können, so dass Nicht-Handeln bereits heute als teuer empfunden wird und Handeln vergleichsweise billig. Hier liegt eine Fehlstelle der Wirtschaftswissenschaften vor, die ihre Kosten-Perspektive auf die psychische und soziale Ebene übertragen müßte, sowie politisch und haushalterisch umsetzbare Steuerungsvorschläge unterbreiten müßte. Der Widerstand gegen Vermeidungsmaßnahmen in der Pandemie ist auch ein Widerstand gegen die Übernahme von Zukunftskosten durch die Lebenden. Es ist daher auch ein Konflikt zwischen herauswachsender und nachwachsender Generation. Allerdings zeigt die Pandemie eben auch: mit fundierten Sachargumenten allein läßt sich Widerstand gegen normalitätsverändernde Einwirkungen nicht verhindern. Ein Kostenausgleich, der stärkere Belastungen stärker ausgleich, sowie ein Anreizsystem, das frühzeitige Nachhaltigkeits-Anpassungen gegenüber abwartender Haltung befördert, könnte die Transformation beschleunigen und gleichzeitig Konflikte neutralisieren.

Keywords: Beharrungskräfte, Normalität, Betroffene mitnehmen: ökonomisch aber auch psychisch und sozial, Handlungsmuster/mentale Erwartungen: es wird Widerstand geben, selbst langfristige Nutznießer können wegen der kurzfristigen Kosten zu Widerständlern werden → Langfrist-Kurzfrist-/Kosten-Nutzen-Transformation, Transformations-Widerstand, Transformations-Begleiter

Systemische Resilienz, Teil 4: Resilienz einüben

Wie kann man Resilienz einüben?

Wer ist welchem Szenario gegenüber wie resilient?

Absolute Resilienz gibt es nicht. Vollständig unempfindlich gegen alles zu sein ist eine fantastische Eigenschaft. Sie mag auf Superhelden und Comicfiguren zutreffen, also auf Fantasie-Gebilde, aber in der Realität die wir zu meistern haben, gibts es nur „relative Resilienz“. Also: etwas oder jemand kann mehr oder weniger widerstandsfähig gegenüber dieser oder jener Entwicklung sein.

Die Fragen, die man bei der Suche nach Resilienz also stellen muss, sind folgende:

…wer?
…gegenüber welchem Szenario?
…wie stark verletzlich oder widerstandsfähig?
…welche Wege zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit?

Die Frage nach „Wer?“ ließe sich beispielsweise beantworten mit:

ich
meine Familie
meine Firma/Organisation
meine Stadt
mein Land
mein Computer
das Finanzsystem
...

Diese und viele weitere Systeme kann man auf ihre Widerstandsfähigkeit hin testen. Ohne zu wissen, welches System man testet, kann man keine Aussage über „Resilienz“ machen. Nennen wir dieses „Wer?“ das „Untersuchungssubjekt“.

Um die die Frage nach Widerstandsfähigkeit zu beantworten bedarf es außerdem eines Szenarios, das eintritt. Szenarien beziehen sich dann immer auf das Untersuchungssubjekt. So stellt man fest, dass manche Szenarien auf viele Untersuchungssubjekte gar nicht passen. Das Szenario „ein Glas Wasser drüberschütten“ ist für die Familie, die Stadt oder das Finanzsystem offensichtlich unproblematisch oder sogar unmöglich. Für „mich“ und für „meinen Computer“ kann dieses Szenario aber durchaus problematisch sein: Wenn ich ein anfälliges Immunsystem habe und mich schnell erkälte, kann das Szenario eines über meinem Körper verschütteten Glases Wassers durchaus als Prüf-Szenario herhalten. Extrem verletzlich gegenüber diesem Szenario sind Menschen, die eine Allergie auf Wasser haben. Die meisten Computer sind gegenüber einem verschütteten Glas Wasser ebenso höchst verletzlich, weil Wasser in sie eindringt und die Elektronik kurzfristig durch Kurzschlüsse und langfristig durch Rost zerstören kann. Die meisten Computer sind also wenig resilient gegenüber Szenarien, bei denen sie mit Wasser in Kontakt kommen.

Wer die Verletzlichkeit seiner Firma oder Organisation testen will, muss sich also fragen:

Welche Szenarien sind vorstellbar, die meine Organisation angreifen könnten?

In der Corona-Pandemie lernen viele Unternehmen schmerzhaft, dass sie gegenüber einer Kontaktsperre hochverletzlich sind. Gastronomiebetriebe und Friseure, aber auch Verkehrsunternehmen und Schulen gehören zu „Hochrisikounternehmen“ für das Szenario einer Kontaktsperre. Dabei spielt es für die Unternehmen keine Rolle, ob diese Kontaktsperre politisch vorgegeben, oder von den Menschen freiwillig vorgenommen wird: wer Kontakte zu anderen Menschen meidet wird sich nicht in gefüllte Restaurants oder Busse setzen, nicht andere Menschen an seine Haare lassen und auch keinen Präsenzunterricht nutzen.

Da diese Unternehmen aber zugleich verletzlich dafür sind, dass ihnen die Umsätze ausgehen, suchen sie nach Wegen, die Kontaktsperre zu umgehen oder mit ihr umzugehen. Restaurants bieten To-Go-Menüs an oder verlagern ihr Restaurantgeschehen nach draußen, gepaart mit großem Abstand zwischen den Tischen. Man arbeitet mit Masken und testet seine Mitarbeiter, oder unterbindet den Fahrkartenverkauf durch den Busfahrer. Die derzeitigen Versuche von Politik und Unternehmen, Regeln zu entwickeln die einen Unternehmensbetrieb trotz potenzieller Ansteckungsgefahr zu ermöglichen ist der Versuch, die eigene Verletzlichkeit durch eine Epidemie zu verringern. Da die Verletzlichkeit nicht rein biologisch ist (durch die Ansteckung von Mitarbeitern oder Kunden mit einer Krankheit), sondern auch betriebswirtschaftlich (durch den Verlust von Umsatz droht Insolvenz), wird nach Handlungsmustern gesucht, mit denen sich die Gefahr von Ansteckung mit der Gefahr von Insolvenz ausbalancieren läßt. Im Vorteil sind dabei jene Organisationen, die zu möglichst kreativen Lösungen kommen. Hier zeigt sich, dass Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität die größte „Waffe“ gegen Szenarien aller Art ist: Wer eine Vielfalt von Lösungsoptionen entwickelt und umsetzt, hat mehr Chancen auf Überleben.

Szenarioanalyse/Szenariotechnik

Mit Szenarien wird im Management bereits seit längerem gearbeitet. Die Grundidee ist, Annahmen über die Zukunft zu machen und die sich daraus ergebenden Entwicklungen auf die eigene Organisation anzuwenden. (Szenarioanalyse/Szenariotechnik) Also beispielsweise: Welche Zukunfts-Szenarien ergeben sich aus der Möglichkeit

  • …dass alle Menschen bei der Geburt künftig einen Identifikations-Chip unter die Haut implantiert bekommen.
  • …dass der Meeresspiegel bis 2070 um 1 Meter steigt.
  • …dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird.
  • …dass in 2 Monaten ein Impfstoff oder in 5 Jahren kein Impfstoff gegen Corona entwickelt wird.
  • … und so weiter…

Wie diese kleine Liste zeigt gibt es unendlich viele mögliche Szenarien, wie die Zukunft sich gestaltet, und jedes Einzel-Szenario hat enorm viele direkte und indirekte Wirkungen auf die eigene Organisation. Die Möglichkeiten sind unüberschaubar, und es bieten sich sowohl Zukunftschancen wie auch Risiken für die einzelne Organisation. Das Denken in Szenarien ermöglicht immerhin, eine kleine Vorausschau auf die zukünftige Welt zu bekommen, in der man sich bewegt.

Wenn man allerdings von der bestehenden Situation in einer Organisation/Unternehmen ausgeht, so mögen diese großen Zukunftsmöglichkeiten zu groß sein, um damit gut arbeiten zu können. Wenn es um die Frage nach der Widerstandsfähigkeit und der Verletzlichkeit einer Organisation geht, kann man das Szenario mit einem Trick viel präziser zuspitzen.

Verletzlichkeit prüfen: Ein Element herausnehmen

Die Idee ist:

Nehmen Sie ein einzelnes Element aus dem System, das in Ihrem Unternehmen/in Ihrer Organisation eine Rolle spielt, und prüfen Sie, welche Wirkungen dieses Herausnehmen auf diese Organisation hat.

Ein solches Element kann eine Mitarbeiterin sein, die das Unternehmen (plötzlich) verläßt. Es kann auch eine politische Entscheidung sein, durch die ein Produkt, das das Unternehmen anbietet, nicht mehr verkauft werden darf. Oder es ist ein Partner, auf den man sich verläßt, der plötzlich pleite geht.

Dieser Ansatz spielt also mit der Idee, sich eine einzelne Hürde vorzunehmen: indem etwas verschwindet, was grade noch vorhanden war, und mit dem man (ganz selbstverständlich) gearbeitet hat. In der Corona-Pandemie ist es der direkte körperliche Kontakt, der schwierig bis unmöglich ist – der also aus dem System verschwunden ist. Wer die Verletzlichkeit seiner Organisation auf verschiedene Szenarien prüfen will, der stelle sich vor, eines folgender Elemente wäre nicht mehr möglich, und dennoch müsste das Unternehmen sich um Funktionsfähigkeit bemühen:

  • alle sind Banken geschlossen (Szenario: Finanzkrise)
  • der Strom ist weg (Szenario: Black Out)
  • die Tankstellen liefern kein Benzin mehr (Szenario: Peak Oil)

Für die einzelne Organisation mögen ganz andere Aspekte wichtig oder wahrscheinlicher sein, dass sie eintreten. Daher müßte jede Organisation sich selbst fragen: Was sind bei uns die kritischen Elemente, deren Verschwinden uns in Schwierigkeiten bringen würde? Und dann genau deren Verschwinden einmal durchzuspielen.

Ich möchte drei Romane empfehlen, die genau mit solchen Szenarien spielen. Alle drei Bücher haben eines gemeinsam: sie lassen ein als selbstverständlich geltendes Element verschwinden und spielen das Szenario breit durch. Die Fantasie der Autoren macht dabei sichtbar, welche Nebenwirkungen das Verschwinden eines Elements in unserer komplexen Zivilisation haben kann. Menschen, die in ihrem Unternehmen solche Szenarien durchspielen wollen, können anhand der Bücher ihre Fantasie schulen:

  • Marc Elsberg: Black Out. Fehlendes Element: Strom. Das Buch spielt mit dem Szenario eines wochenlangen europäischen Stromausfalls, und basiert streng auf wissenschaftlichen Fakten. Als Roman geschrieben ist es hochspannend, aber nichts für schwache Nerven.
  • Andreas Eschbach: Ausgebrannt. Fehlendes Element: Öl. Das Buch diskutiert das Verteuern und Ausbleiben von Mineralöl als Treibstoff und Rohstoff und die sich daraus ergebenden Szenarien.
  • Neal und Jarrod Shusterman: Dry. Fehlendes Element: Wasser. Das Buch spielt das Szenario einer Wasserknappheit in Südkalifornien durch.

(Bitte kaufen Sie bei Interesse die Bücher bei einem lokalen Buchhändler und unterstützen Sie so die Widerstandsfähigkeit ihrer örtlichen Versorgungsstruktur!)

Die Reduktion der Szenarien auf ein einzelnes entferntes Element ist nicht realitätsfern. Wie die Corona-Pandemie zeigt ergibt sich die Komplexität der Situation aus den Wechselwirkungen rund um dieses einzelne fehlende Element. Der fehlende physische Kontakt zwischen Menschen führt in der Corona-Pandemie zu komplexen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wirkungen, die alle auf jede einzelne Organisation zurückwirken. Natürlich wird die reale Situation keineswegs einfacher, wenn man statt nur eines mehrere Elemente eliminiert, doch zum „Heranüben“ an Resilienz-Fragen ist es ausreichend, mit der Herausnahme eines einzelnen Elements zu beginnen.

Resilienz üben: Übungen mit Mitarbeitern und Partnern

Auf Organisationen/Unternehmen übertragen bedeutet dies:

Setzen Sie eine Übung an, die damit spielt, dass ein Element, welches normalerweise selbstverständlich vorhanden ist, nicht mehr verfügbar ist. Dieses Element muss keineswegs aus obiger Liste stammen, es kann sich ganz spezifisch auf Ihre Organisation beziehen. Lassen Sie die Mitarbeiter dann das Szenario durchspielen unter der Aufgabenstellung: „Angenommen, … ist nicht mehr verfügbar, wie gehen wir damit um?“

  • Welche Reaktionen zeigen die Mitarbeiter*innen?
  • Welche direkten und indirekten Auswirkungen sieht das Team für dieses Szenario auf sich selbst, den eigenen Arbeitsbereich und die Gesamtorganisation zukommen?
  • Wie organisiert sich die Mitarbeiterschaft um, um die üblichen Unternehmens-Ergebnisse trotz des Fehlens des einen Elements zu erreichen? Entstehen neue Rollen? Entwickeln sich neue Führungsfiguren?
  • Welche kreativen Ideen entstehen, um mit der neuen Situation umzugehen? („Workarounds“)
  • Ergeben sich daraus Empfehlungen für das Alltagsgeschäft, die sich implementieren lassen?

Man kann dieses Szenario als Planspiel „am Tisch“ durchspielen, oder man versucht tatsächlich „Workarounds“ zu erarbeiten und zu implementieren. Für das Team ist allein das Durchdenken des Szenarios bereits wertvoll, weil das menschliche Gehirn dann bereits das Szenario „zumindest gedanklich durchgespielt” hat und bei einem tatsächlichen Eintritt des Szenarios Ideen wieder aufgerufen werden können. Wenn jedoch auch noch echte Umgehungswege tatsächlich ausprobiert werden, können sogar neue Wege der Unternehmensorganisation entstehen, oder neue Dienstleistungen/Produkte.

Unternehmen machen gern „Teambuilding-Maßnahmen“, bei denen auf Bäume geklettert oder gemeinsam Sport gemacht wird. Auch eine Resilienz-Übung kann teambildend sein! Auch wenn sich solche Übungen um Bedrohungs-Szenarien drehen, heißt das nicht, dass das Ergebnis nur als bedrohlich empfunden wird. Wenn die Mitarbeiter*innen spüren, dass im Extremfall alle an Lösungen arbeiten, setzt dies gemeinschaftliche Energien frei. Wenn allerdings sich die Mitarbeitenden vom Szenario tatsächlich nur bedroht fühlen, ohne dass sie Handlungs- und Auswege finden, dann wird deutlich: Ihr Unternehmen hätte in diesem Szenario ein grundlegendes Problem! Im positiven Fall wird jedoch die Kreativität und das Gemeinschaftspotenzial sichtbar, dass in Ihrem Team schlummert.

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Systemische Resilienz, Teil 3: Resilienz und Regionalentwicklung

Wer Resilienz für Regionen denken will, muss zuerst das Verhältnis zwischen Stadt und Land beleuchten. Städte waren schon immer abhängig vom Land, da eine Versorgung der Städte rein aus dem Stadtgebiet ab bestimmten Einwohnerzahlen unmöglich ist. Die Konzentration der Stadtbevölkerung auf geringem Raum ermöglicht zahlreiche Vorteile, wie effiziente Nutzung von Land für Wohnraum durch Hochbau, kulturelle Vielfalt, kurze Wege und so weiter. Aber für die Versorgung mit Nahrung, Wasser, Energie, Rohstoffen, Produktions- und Konsummitteln waren Städte immer schon aufs (Um-)Land angewiesen. Diese Abhängigkeit rückte mit der Globalisierung ins Unsichtbare, weil Benötigtes „aus Übersee“ kam statt aus dem städtischen Umland. Doch diese Veränderung der Lieferketten war nur eine Erweiterung der städtischen Abhängigkeiten in noch weiter entfernte Regionen. Städte sind heute nicht mehr nur von ihrem Umland abhängig, sondern von so weit entfernten und anonymen Orten, dass die die meisten Stadtbewohner sie weder kennen noch jemals besucht haben.

Der ökologische Fußabdruck als Hilfsmittel

Sichtbar wird die Abhängigkeit, wenn man den Ansatz des Ökologischen Fußabdrucks auf Städte anwendet. Der Ökologische Fußabdruck ist ein Maß dafür, welche Fläche benötigt wird, um den Lebensstandard eines Menschen abzudecken. Die Flächenumrechnung ist nicht ganz unproblematisch, weil man fließendes Wasser nur begrenzt in Quadratmeter umrechnen kann, oder benötigte Mengen an Kobalt für ein Mobiltelefon eines Berliners nur begrenzt in brandenburgische Quadratmeter abbilden kann – Kobalt wird in Brandenburg nicht gefördert. Dennoch ist der ökologische Fußabdruck (oder der ökologische Rücksack) ein hilfreicher Wert, um städtische Abhängigkeiten sichtbar zu machen.

Für Deutschland wird ein ökologischer Fußabdruck von ca. 5,5 Hektar pro Person berechnet: Die Durchschnittsdeutsche beansprucht also für ihren Konsum eine Fläche von 5,5 Hektar. Da Deutschland ein relativ dicht besiedeltes Land ist, steht für vergleichsweise viele Menschen relativ wenig Fläche zu Verfügung, weshalb sich ein ökologisches Defizit von 3,2 Hektar pro Person ergibt: „Wir“ Deutschen beanspruchen also pro Person 3,2 Hektar Fläche außerhalb des eigenen Landes. (Man könnte dies als ökologischen Kolonialismus bezeichnen.) Übertragen auf Berlin: 3,6 Mio Einwohner multipliziert mit 5,5 Hektar sind ca. 20 Millionen Hektar, also ca. 200.000 Quadratkilometer. Berlin selbst ist gerade einmal 900 Quadratkilometer groß, Brandenburg ca. 30.000 Quadratkilometer. Würde man einen Kreis um Berlin ziehen, um die 200.000 Quadratmeter ökologischen Fußabdruck direkt aus dem Umland zu beziehen, so hätte dieser Kreis einen Radius von 250 km um den Fernsehturm am Alex. Dieser Kreis umfasst alles zwischen Usti nad Labem in Tschechien, Posen in Polen, Hannover im Westen und Rügen im Norden. Dieser Kreis ist die „regionale Beanspruchung Berlins“.

Nicht berücksichtigt in dieser Kalkulation sind die BewohnerInnen, die in diesem Kreis leben. Denn auch die Menschen in Cottbus, Rostock oder Dresden haben eigene ökologische Fußabdrücke, die durch Berlins Anspruch noch nicht abgedeckt sind, sondern noch dazukommen. Man kann hieran einen Verteilungs-Konflikt ablesen, der hierzulande nur deshalb nicht sichtbar wird, weil wir Waren und Dienste aus aller Herren Ländern durch globalisierten Lieferketten vereinnahmen.

Sprechen wir also über Resilienz und Widerstandsfähigkeit in einer nachhaltigen Zukunft, so wird einerseits deutlich, dass die ökologischen Fußabdrücke der Deutschen viel zu groß sind und schrumpfen müssen, dass aber andererseits Stadt und Land zusammenarbeiten müssen, weil eine Versorgung der Städte ohne das Land nicht möglich ist.

Symbiose zwischen Stadt und Land

Denkt man Resilienz als Grundkonzept regionaler Entwicklung so wird schnell deutlich, dass die Abhängigkeit zwischen Stadt und Land nicht auflösbar ist. Sie muss stattdessen konstruktiv ausgestaltet werden. Dafür hilft es, sich vor Augen zu führen, was Stadt und (Um-)Land füreinander tun können.

Städte sind Zentren des Handels und der Kultur, aber auch besonderer Leistungen, wie Gesundheitsleistungen. Davon macht die Landbevölkerung rege Gebrauch bei Theaterbesuchen, Shoppingsamstagen und Krankenhausfahrten. Für das Land sind die Städte Abnehmer und Markt, aber auch Kultur- und Kreativlieferanten. Das Land ist der Garten, Rohstoff- und Energiequelle für die Städte: die Quelle der Grundversorgung. Hinzu kommen wechselseitige Aspekte wie Nahtourismus und Erholungsgebiete, wobei das Land mehr Natur und die Stadt mehr Kultur zu bieten hat. Auf dieser potenzielle Arbeitsteilung ließe sich eine spannende Symbiose der Zukunft formen.

Bislang ist diese Sicht aber sehr theoretisch. Bewusst praktiziert wird eine daraus resultierende Zusammenarbeit aber noch sehr selten. Das liegt auch an den administrativen Abgrenzungen: Es gibt kein Land „Berlin-Brandenburg“, sondern zwei nebeneinander her agierende politische Administrationsbereiche. Das mag in Regionsverbünden wie rund um Hannover oder Nürnberg anders sein, wo regionale Zusammenarbeit intensiver gelebt und auch institutionell unterfüttert wird. Bislang herrscht aber das Prinzip vor, dass städtisches Handeln an der Stadtgrenze endet und das Land als Konkurrent (z.B. um staatliche Gelder) statt als Kooperationspartner wahrgenommen wird (und umgekehrt).

Versorgungswirtschaft

Die Corona-Pandemie führt uns vor Augen, dass die Versorgung der Städte und des Landes keine Selbstverständlichkeit ist. Mit dem Fokus auf Klopapier und Mehl wurde sichtbar, dass eine Versorgung mit Lebensnotwendigem im Krisenfall wichtiger ist, als die Versorgung mit Luxusprodukten. Diese Perspektive müßte eigentlich dazu führen, dass wir nochmal neu über unser Bild von „Wirtschaft“ nachdenken und entsprechend: unser Bild kluger Wirtschaftsförderung. Würde man die Aufgabe der Wirtschaft in erster Linie als „Versorgung der Bevölkerung“ sehen, würden viele Wirtschaftssektoren hinterfragt werden. Staatliche Förderungen müßten neu justiert werden, wenn „Versorgung“ Priorität bekäme.

Zugleich würden die ländlichen Regionen aufgewertet: sie sind es, in denen die Lebensmittel der Städter wachsen und aus denen die Energie kommt, die die Städte am Laufen halten. Dieses „Versorgungsbewusstsein“ ist auf dem Land noch unterausgeprägt, könnte aber künftig zu mehr Augenhöhe in Kooperationsverhandlungen mit den Städten führen.

Vorsicht vor neuen Abhängigkeiten!

Resilienz folgt aber nicht automatisch daraus, das alle Städte nun alles, was sie brauchen, aus ihrem Umland beziehen. Wie die Corona-Pandemie zeigt, können in Krisensituationen Effekte auftreten, die man nicht vorhergesehen hat. So hat beispielsweise die Nachhaltigkeitsszene in Deutschland sehr viel Wert auf „Community & Zusammenarbeit“ gelegt, und dabei ein Pandemieszenario und „social distancing“ nicht einkalkuliert. Die Strategie des „Zusammenmachens“ wurde durch Corona erstmal torpediert und nur mühsam versucht die Szene, neue Formen der Zusammenarbeit in Zeiten des „social distancing“ zu entwickeln. Ebenso wäre es töricht, wenn große Städte sich künftig nur auf ihr Umland verlassen: Eine dreijährige regionale Trockenperiode könnte ihre Versorgung infrage stellen. Redundanzen sind daher das Gebot der Zukunft: Städte sollten viel stärker das regionale Potenzial nutzen und die regionale Versorgung fördern. Das taten sie zuletzt viel zu wenig. Aber sie sind gut beraten, redundante Versorgungswege offen zu halten, beispielsweise mit gezielten „Krisen-Vorsorge-Kooperationen“ mit Partnerstädten und Partnerregionen. Für mehr Widerstandsfähigkeit gilt es, Mono-Abhängigkeiten zu vermeiden.

Neue Chancen für ländliche Regionen

Ländliche Regionen ihrerseits sind gut beraten, ihre Wichtigkeit als „Gärtnerei der Städte“ hervorzuheben. Die nach einem Geschäftsmodell suchende Lausitz könnte sich als Mitversorger Berlins, Dresdens und Wroclaws positionieren. Fläche für Energieversorgungssysteme, Holz und auch Lebensmittel (Teich- und Landwirtschaft) gibt es genug. Und auch Raum für Naherholung: Nachdem Fernreisen zwecks Unterbrechung der „schwachen Bindungen“ wohl längerfristig eine untergeordnete Rolle spielen werden, wird der Nahtourismus zunehmen. Man kann dies bereits wahrnehmen: wer im April 2020 in den Wäldern unterwegs ist, begegnet auffällig mehr Menschen.

Da in Wirtschaftsaspekten immer nach dem „unique selling point“ gesucht wird, also der „Einzigartigkeit“ der Leistung, die jemand verkauft, wird sichtbar, dass eine Resilienz-Erzählung die „wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ des ländlichen Raumes gegenüber den wichtigsten Märkten (die Städte!) hervorhebt.

Resilienz in regionale Geschäftsmodelle integrieren

Verletzlichkeit entsteht durch Abhängigkeit. Abhängigkeiten entstehen durch Monokultur. Die Lausitz war viele Jahre lang vom „Geschäftsmodell Braunkohle“ abhängig und leidet nach dem Bedeutungsverlust der Branche. Ähnliches könnte Städten wie Wolfsburg passieren, wenn die Bedeutung der Automobilindustrie schrumpft. Auch Orte in Baden-Württemberg oder Sachsen, wo Automobilzulieferer in „guten Zeiten“ für gute Löhne sorgen, sind verletzlich, wenn sie sich allein auf diese eine Branche konzentrieren. Der „Peak Automobil“ ist erreicht. Regionen mit alleiniger Ausrichtung auf einzelne Branchen sind verletzlich.

Umso spannender sind Experimente in der Corona-Pandemie, die Produktion von Fabriken so umzustellen, dass andere Produkte herstellbar werden. Wenn Fabriken so designt sind, dass sie binnen zwei Wochen statt Auto-Teilen plötzlich Beatmungsgeräte herstellen können, schrumpft ihre Verletzlichkeit und ihre Widerstandskraft wächst. Hier zeigt sich, dass Flexibilität die Ausfallwahrscheinlichkeit senkt und somit die Resilienz erhöht. Die Fähigkeit zum schnellen Re-Design von Fabrikationen ist ein Maßstab für Widerstandsfähigkeit. Regionen, die auf kreative Köpfe zurückgreifen können, die „mal eben“ die Abläufe in einer Fabrik „umdesignen“ können, helfen nicht nur der Fabrik, sondern der Region. Diese „Re-Design“-Überlegungen knüpfen an der Konversionsdebatte der 1980er an, als es darum ging, Rüstungsbetriebe in Zivilbetrieb zu überführen. Regionen, die sich an ihren Hochschulen Design-Lehrstühle halten und Studierende und regionale Firmen zusammenbringen, erhöhen auch ihre spontane Anpassungsfähigkeit.

Wenn es darum geht, Monokulturen in der Wirtschaftslandschaft zu vermeiden, muss auch der „Leuchtturm-Ansatz“ hinterfragt werden, der oft in der (regionalen) Wirtschaftsförderung angewendet wird. „Leuchttürme“ werden oft als einzelne, große Unternehmen gedacht, deren Strahlkraft auch in ihre Umgebung wirkt: indem Sub-Unternehmen als Lieferanten einbezogen werden, fließen Erlöse des Leuchtturm-Unternehmens in die kleineren Unternehmen und stärken diese. Wird aus dem Förder-Effekt eines Leuchtturms allerdings eine Abhängigkeit, stehen Regionen im Krisenfall kritisch da. Bedenkenswert wäre daher, die Leuchtturm-Strategie zumindest um eine „Lichtermeer-Strategie“ anzureichern: sich also darum zu bemühen, möglichst viele, vielleicht auch nicht ganz so große Unternehmen in einem Netzwerk heranzuziehen, die auf verschiedenen Märkten unterwegs sind. Fallen dann einzelne Märkte und einzelne Unternehmen aus, betrifft das aber nicht gleich die ganze Region. Viele kleine zusammen können letztlich vergleichbare Strahlkraft entwickeln wie eine Handvoll großer.

Allerdings muss klar sein: Der heutige ökologische Fußabdruck in Mitteleuropa ist nicht nachhaltig und kann es nie sein. Kommunen, die sich widerstandsfähiger machen wollen, müssen darauf einwirken, dass der Konsum ihrer BewohnerInnen nicht überbordend und keine Selbstverständlichkeit wird. Um sich um die ureigene kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge zu kümmern, müssen die Kommunen womöglich auch darauf einwirken, dass ihre BewohnerInnen eine angemessene Konsum-Balance anstreben.

„Reich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.“ Die dem Erzbischof von Konstantinopel Johannes Chrysostomos zugeschriebene Weisheit kann als Leitsatz für Genügsamkeit und Resilienz dienen.

Flexibilität einbauen

Die Corona-Pandemie zeigt uns: Wer flexibel ist und seine Arbeitsweise an „social distancing“ anpassen (Homeoffice!) und seine Geschäftsmodelle umstellen kann (Konversion/Re-Design), ist wesentlich weniger stark betroffen. Flexibilität in die starren Strukturen einzubauen, macht widerstandsfähiger. Eine ausgeprägte Flexibilitätskultur kann sicherlich erlernt werden: Für Städte und Dörfer indem sie Reallabore durchführen, um Neues zu testen, Experimentierklauseln in ihre Regularien einführen oder bestehende Experimentierräume nutzen, aber auch ganz banal: Übungen durchführen. Kommunalverwaltungen, die nie einen Stromausfall, eine Trockenperiode oder einen Wirtschaftskrise erprobt haben, reagieren auf solche Ereignisse naturgemäß langsamer. Gleiches gilt natürlich für Unternehmen, Vereine, (Hoch-)Schulen und andere Institutionen.

(Zwischen-)Fazit

Verletzlichkeit entsteht durch Abhängigkeiten, die wiederum durch Monokulturen entstehen. Widerstandsfähige Städte und Gemeinden brauchen wenig, und was sie brauchen beziehen sie über vielfältige Kanäle und bezahlen es durch Vielfalt in ihren Geschäftsmodellen. Widerstandsfähigkeit wird durch Flexibilität erhöht, die sich darin ausdrückt, ob man in der Lage ist, bestehende Strukturen und Arbeitsweisen schnell umzubauen, zu „re-designen“. Stadt und Land stehen sich dafür idealerweise kooperierend beiseite und arbeiten symbiotisch.

Teil 4 befasst sich mit der Frage: Wie kann man Resilienz einüben?

Hier gehts zum Sandpapier-Podcast über Resilienz in der Zukunftsstadt.

Zurück zu Teil 1: Systemische Resilienz in Zeiten der Corona-Pandemie

#KeinZurückZumStatusQuo

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Wir wünschen uns sehnlichst, dass dieser Ausnahme-Zustand endet. Endlich wieder frei bewegen! Endlich wieder angstfrei leben! Endlich wieder Zukunft planen!

Aber Achtung: Wir dürfen nicht dorthin zurückkehren, wo wir herkamen!

#KeinZurückZumStatusQuo!

In der Vor-Corona-Welt war ein hemmungsloser Flugverkehr der Viren-Verteiler. Zerrissene, planetenumfassende Lieferketten auch für Lebensnotwendiges bedroht heute unsere Versorgung. Unser Gesundheitssystem war unzureichend ausgestattet. Kulturschaffende lebten von der Hand in den Mund. „Angemessene Risikovorsorge“ war Fremdwort, und was „systemrelevante Berufe“ sind hatten wir nie diskutiert.

Wir müssen unsere Prioritätensetzung überdenken!

Die Corona-Pandemie zeigt uns wie durch ein Brennglas, was wirklich wichtig ist. Influencer-Trips an exotische Orte sind es nicht. Klopapier und Linsen sind wichtiger als Rolex und Markenschuhe. Funktionierendes Internet, Naherholungsmöglichkeiten und Lebensmittel aus der Region schlagen Formel 1, Kreuzfahrten und das immer neuste Fernsehgerät. Wohl dem, dessen Waschmaschine funktioniert!

Wir lernen in der Krise, dass Verwaltung schnell handeln kann. Wir lernen, dass Büroarbeiter problemlos auch zwei oder mehr Wochentage von Zuhause arbeiten können und sich Autofahrten sparen können. Wir lernen, dass Zuhauselernen möglich ist – es geht uns ja auch um Hochwertige Bildung und selbständige Menschen und nicht um Anwesenheit in Schulgebäuden. Oder?

Wir sehen, das der Rückzug des Menschen Raum für Natur läßt: In Venedig kann man den Grund des Ozeans und darin lebende Fische wieder sehen, die in den vergangenen Jahren durch gigantische Touristenströme vernebelt wurden. In den Städten wird die Luft klarer, weil der Verkehr nachläßt. Norditalien verliert Menschen, aber auch Fabrik-Rauch. Die Krise ist auch eine Chance.

Eine Rückkehr zum Status Quo wäre eine vergebene Chance! Wir Menschen stehen noch ganz anderen Risiken gegenüber als „nur“ Pandemien: Artensterben, Klimawandel, Vermüllung der Meere, Ressourcenverknappung, wachsende Armut bei konzentriertem Vermögen – diese und andere Probleme sind tickende Zeitbomben, die morgen explodieren können. Und wenn sie es tun sind wir dann vorbereitet? In der Vor-Corona-Zeit haben wir solche Risiken nicht wirklich ernst genommen. Wir haben keine Vorsorge getroffen, haben uns vor (politischen) Entscheidungen gedrückt. Wir haben es für lästig gehalten, auf Liebgewonnenes zu verzichten, weil wir ein „Recht auf Konsum“ für ganz natürlich hielten. Die Corona-Pandemie zeigt uns, dass unsere bisherige Lebensweise Nebenwirkungen hat, die unsere Gesundheit – ja: unser Leben! – bedrohen. Wollen wir dahin wieder zurück? Nein! Wir wollen die Krise zur Transformation, zum Wandel nutzen!

#KeinZurückZumStatusQuo? Aber wohin denn dann? Wenn wir nicht zu dem zurückkehren, was wir kennen und woran wir uns gewöhnt haben: Was ist die Vision, der wir folgen können?

Wer Visionen sucht, sollte sich umschauen! Im Herbst 2015 verabschiedeten die Länder dieser Erde in der UNO 17 Ziele: Die UN-Nachhaltigkeitsziele. Man nennt sie auch die Agenda 2030. Keine Armut, kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen sind nur die ersten drei. Hochwertige Bildung, menschenwürdige Arbeit und sauberes Wasser gehören auch dazu. Selbstverständlichkeiten in reichen Ländern wie unserem? Nicht in einer Pandemie-Situation! Nachhaltiger Konsum und Produktion, sowie nachhaltige Städte und Gemeinden sind Ziele, von denen auch wir noch weit entfernt sind. Wie wichtig nachhaltig aufgestellte Städte und Dörfer sind erfahren wir gerade in der Corona-Zeit sehr spürbar: nur wenn unsere Gemeinden funktionieren, bekommen wir Essen, finden Zuspruch, wärmen uns im kommunalen Nest.

Die 17 Nachhaltigkeits-Ziele sind eine Vision der wir folgen können. Wenn wir die Systeme wieder hochfahren, die wir mit einem Corona-Shut-Down aus Selbstschutz so plötzlich stilllegten, müssen wir uns gut fragen:

  • Welche in der Corona-Pandemie erlernten Handlungen behalten wir bei, weil wir sie für gut befunden haben? HomeOffice? Lagerhaltung? Sorge um unsere Geschäftspartner? Gute Bezahlung für Systemrelevanz? Händewaschen?
  • Welche alten Handlungsmuster sind der Krisenvorsorge abträglich? Welche Handlungsmuster machen uns verletzlich statt widerstandsfähig? Wie machen wir unser Handeln nachhaltiger, statt einfach wieder in alte Muster zurückzufallen?
  • Auf welche anderen Krisenszenarien wollen wir uns gleich mal vorbereiten? Wie beugen wir Artensterben, Ressourcenverknappung, Pandemien, Stromausfällen und Klimawandel vor? Wie helfen wir der Natur – dessen Teil wir sind! – sich selbst zu helfen?

Diese Fragen sollte sich jedes Unternehmen stellen, jeder Verein, jede Behörde, jede (Hoch-)Schule, jede andere Institution. Aber auch jede Familie. All unsere Handlungen zusammen ergeben das, was wir Gesellschaft nennen. Und wir können uns entscheiden: wollen wir in einer verletzlichen Gesellschaft leben, oder in einer nachhaltigen?

#KeinZurückZumStatusQuo! Stattdessen lieber #AufZuNachhaltigenZielen!

Mehr Infos: www.17ziele.de

Systemische Resilienz in Zeiten der Corona-Pandemie, Teil 2

Resilienz und Systeme

Resilienz bedeutet „Widerstandsfähigkeit“. Der Begriff stammt aus der Ökosystemtheorie, wird aber inzwischen in verschiedenen Fachbereichen benutzt. Beispielsweise in der Psychologie. Diese „fachliche Weitläufigkeit“ des Begriffs zeigt, dass die von ihm adressierte Frage in verschiedenen Fachbereichen auftaucht:

  • Wie widerstandsfähig ist ein Mensch?
  • Wie widerstandsfähig ist ein Unternehmen?
  • Wie verletztlich bzw. widerstandsfähig ist eine Kommune oder gar ein ganzes Land?

Auch läßt sich diese Frage auf Systeme anwenden, die als Querschnitt zwischen anderen Systemen liegen, oder als unterstützende, versorgende, transportierende Infrastruktursysteme fungieren:

  • Stromversorgungssystem
  • Mobilitätssystem
  • Finanzsystem
  • Gesundheitssystem
  • Bildungssystem

Verletzliche Systeme: Kollaps des Gesundheitssystems?

In der aktuellen Corona-Pandemie ist oft von einem möglichen „Kollaps des Gesundheitssystems“ die Rede. Unter „Kollaps“ ist dabei vermutlich gemeint, dass die Funktionsweise des Systems so stark beschädigt ist, dass es seine Systemdienstleistung nicht mehr (gut genug) erbringen kann. Natürlich brechen keine Mauern von Krankenhäuser zusammen, weil die Menschen darin einen Viruseffekt haben, aber die Funktion von Krankenhäusern kann beschädigt werden, wenn das Personal überlastet ist oder wenn weniger Beatmungsgeräte vorhanden sind als Patienten, die solche Geräte brauchen. Dann verliert das Krankenhaus seine Funktion, für die es gedacht ist und gebraucht wird. Passiert das in vielen Krankenhäusern gleichzeitig, kann man sehen, dass das gesamte Gesundheitssystem seine Funktionsfähigkeit verliert.

Krankenhäuser sind zentrale Bausteine des Gesundheitssystems. Sie sind aber auch selbst Systeme: Sub-Systeme des Gesundheitssystems. Systemausfälle können also andere Systeme in Mitleidenschaft ziehen: wenn viele Krankenhäuser ihre Funktionalität verlieren, verliert das Gesundheitssystem, dessen Teil sie sind, seine Funktionalität.

Resilienz von Systemen

Um strukturiert ein Bild von Verletzlichkeit und Widerstandsfähigkeit zu bekommen, lohnt es sich also sich anzuschauen, welche Systeme es gibt und worin deren Funktionalität besteht. Gesellschaftliche Systeme setzen sich dabei aus „Bausteinen“ zusammen. Folgende Tabelle zeigt solche Bausteine, wobei man sagen kann, dass größere Systeme sich aus kleineren Systemen zusammensetzen, während Systeme die Funktionalität anderer Systeme nutzen, als auch eigene Funktionalität für andere Systeme bereitstellen.

Ebene Wer? Beispiele! Maßstab, anhand dem die Funktionsfähigkeit ablesbar ist
Individuelle Ebene Ein Mensch: Sie! Ich. Die Nachbarin. Klaus. gesund?/gesunderhaltend?
Familienebene Familie Müller, Familie Djawid versorgt?/versorgend?
Organisationsebene Unternehmen, Vereine, Verwaltungen, … lieferfähig, arbeitsfähig?/belieferbar?
Kommune Wuppertal, Bergamo, New York, Madrid daseinsversorgend?
Regionenebene Kommunen + Umland: Sachsen, Ruhrgebiet, Region Hannover versorgungsunterstützend?
Nationale Ebene
BRD, USA, VR China, Republik Italien
regierend, steuernd?

Der Mensch, ein psychisches System

Die Systemtheorie und von ihr inspirierte Fachbereiche wie die Psychologie erlauben sich, auch einen einzelnen Menschen als System zu betrachten. Das Bewusstsein eines Menschen läßt sich als „psychisches System“ beschreiben. Wie für Systeme üblich kommuniziert der Mensch, hat eine gewisse Funktionalität und einen gewissen System-Zustand, der sich ändern kann. In der Corona-Pandemie geht es darum die vielen Individuen möglichst gesund zu halten. Sie sind verletzlich gegenüber Viren, die ihren Körper angreifen und beschädigen können, bis hin zum Tod. Diese Verletzlichkeit wird als Stärke des Corona-Virus sichtbar: es kann Menschen krank machen und töten.

Allerdings haben auch die Reaktionen der politischen Entscheider Auswirkungen auf uns Menschen: Die Isolation, in der wir uns halten sollen, drückt aufs Gemüt, und auch sich einstellende Ängste haben Auswirkungen auf die (psychische) Gesundheit eines Menschen. Und nun stellt sich die Frage:

  • Wie widerstandsfähig ist der/die Einzelne gegenüber dem Virus und den gesellschaftlichen Wirkungen?

Und in der Tat wird hierfür auch in der Psychologie der Begriff der Resilienz benutzt, um zu beschreiben, wie verletzlich oder widerstandsfähig ein Mensch ist.

Woran kann man letztlich aber ableiten, wie verletztlich oder resilient ein Mensch gegenüber der „Corona-Situation“ ist? In obiger Tabelle schlage ich vor, dass man die letztlich an der „Funktionsfähigkeit“ ablesen kann, ob ein Mensch seiner „Rolle“ im Gesamtsystem nachkommt. Bei einem Menschen stellt sich also die Frage:

  • Ist er/sie gesund?

Und dazu kann man die Frage stellen:

  • Ist er/sie in der Lage, andere gesund zu erhalten?

Beide Fragen zusammen beleuchten also den Zustand eines Menschen: wie geht es ihm? Ist er in der Lage, etwas für andere zu tun?

Die Familie als Versorgungs-System

In der Corona-Isolation sind wir oftmals stark auf unsere Familienebene zurückgeworfen. Die Familie als Verbund einzelner Menschen hat familienspezifische Aufgaben. Insbesondere soll sie die einzelnen Familienmitglieder versorgen: Mit Essen, Wärme, Nähe, Zuwendung.

Verliert eine Familie diese Funktion, ist ihre Widerstandsfähigkeit offenbar gebrochen. Sie ist ihrer Verletzlichkeit erlegen. Sie kann ihre Funktion nicht mehr (adäquat) erfüllen.

Natürlich ist die Funktionsfähigkeit eines Familien-Systems abhängig davon, wie es den einzelnen Familienmitgliedern geht. Geht es Müttern und Vätern gut, können sie dazu beitragen, dass es auch anderen in der Familie gut gehen. Sind sie allerdings Opfer ihrer Verletzlichkeit geworden, senkt das auch die Widerstandsfähigkeit der Familie. Die Resilienz von Systemen ist also abhängig von der Resilienz ihrer Sub-Systeme, wie auch von der Resilienz ihrer Umgebungssysteme.

Verletzlichkeit und Resilienz analysieren

Auf ähnliche Weise kann man sich fragen:

  • Wie verletzlich ist eine Organisation gegenüber einer Pandemie?
  • Wann verliert sie ihre Funktionsfähigkeit?

Um Verletzlichkeit zu vermeiden und Widerstandsfähigkeit aufzubauen könnten sich Organisationen fragen:

  • Welchen Risiken gegenüber sind wir (besonders) verletzlich?
  • Von welchen anderen Systemen hängt unsere Funktionsfähigkeit ab?
  • Welchen Beitrag können wir leisten, um unsere Sub-Systeme (insbesondere die MitarbeiterInnen) widerstandsfähiger zu machen?
  • Mit welchem Beitrag können wir jene Systeme ertüchtigen, auf deren Funktionsfähigkeit wir angewiesen sind?
  • Welche Systeme wären gefährdet, wenn wir unsere Funktionsfähigkeit verlieren? Haben wir eine Verantwortung für jene Systeme, die auf uns angewiesen sind? Und wenn ja, wie können wir diese Verantwortung aktiv übernehmen?

Man kann in obiger Tabelle nun weitere Ebenen mit ähnlichen Fragen konfrontieren und auch die Kommunen, die regionalen Verbünde, die Nationen sowie die planetaren Strukturen einer entsprechenden Analyse unterziehen. Für den Einzelnen, beispielsweise für Sie liebe Leserin/lieber Leser, ist eine wichtige Frage aber:

  • In welchen Systemen habe ich (relevanten) Einfluss? Welche Systeme sind für meine eigene Funktionalität bedeutend und wie kann ich diese resilienter machen?
  • Wie vermeide ich eigene Verletzlichkeit und mache ich mich selbst resilienter?

Weiterlesen: Teil 3: Systemische Resilienz: Resilienz und Regionalentwicklung

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Systemische Resilienz in Zeiten der Corona-Pandemie, Teil 1

„Corona“ testet unsere Systeme

Resilienz bedeutet „Widerstandsfähigkeit“. Der Begriff stammt aus der Ökosystemtheorie. Widerstandsfähigkeit steht als Gegenbegriff zu „Verletzlichkeit“. Systeme können verletzlicher oder widerstandsfähiger sein.

Was wir in Zeiten der Corona-Krise erleben ist ein Test der zivilisatorischen Systeme. Die Corona-Pandemie und die politischen Entscheidungen stressen und strapazieren zahlreiche Systeme. Die aktuellen Entwicklungen „testen“ also, wie resilient unsere Gesellschaft und ihre Sub-Systeme gegenüber einer globalen Pandemie ist. Den Zeitungen und Nachrichten können wir derzeit im Tagestakt neue Entwicklungen, Entscheidungen und Empfehlungen entnehmen. Ich möchte hier jedoch einen etwas distanzierteren Blick auf die Corona-Pandemie einnehmen und mir anschauen, was wir daraus über die Resilienz von Systemen lernen können.

Resilienz und die Transition Towns

Mir persönlich ist die Idee von Resilienz nicht neu. Der Begriff lief mir spätestens mit dem Aufkommen der „Transition Town“-Idee über den Weg. Im deutschsprachigen Raum verankerte sich die Idee der „Transition Towns“, der „Städte im Übergang“ mit dem Buch „Energiewende – das Handbuch“ von Rob Hopkins. Es erschien 2008 im Zweitausendeins-Verlag und trug den Untertitel „Anleitung für zukunftsfähige Lebensweisen“. Hopkins diskutiert in dem Buch eine Transformation unserer Strukturen und unserer Lebensweise vor dem Hintergrund von Ölknappheit und Klimawandel. Er empfiehlt in diesem Buch, die Städte und Dörfer als zentrale Handlungsebene zu betrachten: statt zu versuchen, global auf den Klimawandel einzuwirken solle der Einzelne sich lieber um sein Dorf bzw. seine Stadt kümmern, denn dort könne er wirksam sein, weil er/sie dort tatsächlich Einfluss habe. Und Hopkins diskutierte das Konzept der „Resilienz“, indem er sagte: Es lohnt, bei der Transformation der Städte und Gemeinden nicht nur auf eine Verminderung des CO2-Ausstoßes zu achten oder auf einen Aufbau eines Energiesystems auf Basis erneuerbarer Energiequellen, sondern auch, unsere Kommunen auf mögliche Nebenwirkungen vorzubereiten. Unsere Städte und Dörfer sollen auch weiter funktionieren, wenn sie mit Schocks oder Krisen konfrontiert sind. Wenn unsere Wohnorte „krisenfester“ sind, bleiben wir in ihnen handlungsfähig. Die Idee der Krisenfestigkeit, der Widerstandsfähigkeit, der Resilienz hat Hopkins also zuerst auf die Kommune bezogen, und sie aus den Risiken von Klimawandel und Energieversorgung abgeleitet.

Ich fand beide Überlegungen sehr wertvoll:

  • die Idee, „Widerstandsfähigkeit“ als Maßstab für die Gesundheit einer Kommune anzulegen,
  • als auch die Idee, mir die Kommune als Handlungsebene zu suchen, weil ich (und die meisten anderen Menschen) dort mehr Einfluss haben als in fremden Städten oder auf globaler Ebene.

Die Idee einer Pandemie diskutiert Rob Hopkins in diesem Buch nicht. Wie gesagt interessierte ihn und die damals entstehende „Transition Town“-Community zuerst die Risiken aus Energieversorgung und Klimawandel. Diese beiden Risiken sind auch heute noch höchst relevant, aber das Tagesgeschehen wird aktuell dominiert von der Corona-Pandemie und den nationalen Reaktionen darauf.

Krisenszenarien und Resilienz

Resilienz beschreibt also die Fähigkeit eines Systems, gegenüber (externen) Schocks und Krisen widerstandsfähig und handlungsfähig zu bleiben. Dabei können die Schocks vielfältiger Art sein:

  • Pandemien, siehe: Corona
  • Wirtschaftskrise, siehe: wirtschaftliche Auswirkungen auf die politischen Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie
  • Finanzkrise
  • Energieversorgungskrise, Stromausfall
  • Klimawandel, Extremwetter
  • politische Krisen

Die Liste zeigt: es gibt vielfältige Krisenszenarien, gegen die unsere Systeme widerstandsfähig sein sollten. Die Corona-Krise erlaubt es uns, live und in Farbe zu beobachten, wie widerstandsfähig Einzelsysteme gegenüber einer Gesundheitskrise (und deren Nachwirkungen) sind. Systeme können gegenüber dem einen Krisenszenario unglaublich widerstandsfähig sein, aber gegenüber einem anderen höchst verletzlich. Ich möchte versuchen, mit der „Resilienz-Brille“ auf die verschiedenen Systeme zu schauen. So können wir aus der aktuellen Corona-Krise bestenfalls lernen, wie wir unsere Systeme auch gegenüber anderen Krisen widerstandsfähiger gestalten können.

Corona

Weiterlesen: Systemische Resilienz in Zeiten der Corona-Pandemie, Teil 2